Die Besatzung der Westsahara

Auf den UN-Karten der verbliebenen Kolonien in Afrika gibt es immernoch eine, die nicht ihre Unabhängigkeit erlangt hat: die Westsahara.

Viele glauben, dass das Zeitalter des Kolonialismus längst Geschichte ist; dem ist aber nicht so. Auf den UN-Karten der verbleibenden Hoheitsgebiete ohne Selbstregierung bleibt in Afrika noch eine letzte koloniale Frage ungelöst. Das Königreich Marokko hält einen großen Teil der benachbarten Westsahara besetzt und behindert so den Abschluss des Dekolonisierungsprozesses.

In den letzten Monaten des Jahres 1975 erlitt das Streben des sahrauischen Volkes nach Unabhängigkeit einen schweren Schlag. Die Kolonialmacht des Territoriums Spanien gab die Westsahara auf, ohne den von der UNO geforderten Unabhängigkeitsprozess abgeschlossen zu haben. Stattdessen gewährte das im Umbruch gefindliche franquistische Spanien marokkanischen Streitkräften den Einmarsch in das Territorium und verstieß damit sowohl gegen allgemein gültige Prinzipien des Völkerrechts als auch gegen ein Gutachten des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag.

Die marokkanische Armee stieß bei ihrem Einmarsch auf Widerstand der Sahrauis, die sich in der Befreiungsbewegung Frente Polisario organisiert hatten. Nach 16 Jahren des bewaffneten Konflikts schlossen die beiden Parteien im Jahr 1991 ein Waffenstillstandsabkommen. Laut dieses Abkommens sollte 1992 ein Referendum über die Unabhängigkeit der Westsahara stattfinden. Diese Einigung stand im Einklang mit den über 100 UN-Resolutionen, welche die Achtung des Selbstbestimmungsrechts des sahrauischen Volkes fordern.

Die UN-Mission MINURSO wurde ins Leben gerufen, um einerseits den Waffenstillstand zu überwachen und andererseits die Durchführung des Referendums sicherzustellen. Dies ist jedoch bis heute nicht geschehen. Marokko sabotiert den Friedensprozess, indem es nicht mit den UN-Sondergesandten für das Hoheitsgebiet kooperiert bzw. deren Ernennung abgelehnt hat.

Im Jahr 2020, nach 18 Monaten ohne UN-Sondergesandten und fast 30 Jahren ohne Fortschritt in Richtung eines Referendums, gingen marokkanische Streitkräfte gewaltsam gegen einen sahrauischen Protest in der Region von Guerguerat im Süden der Westsahara vor, und zwar in einer Zone außerhalb des marokkanisch besetzten Gebietes, in der militärische Präsenz gemäß den Bedingungen des Waffenstillstandsabkommens streng verboten ist. Die Polisario sah dies als Bruch des Waffenstillstands und erklärte daher das Abkommen mit Marokko als beendet. Nach 29 Jahren wurde daraufhin der bewaffnete Konflikt wieder aufgenommen.

Die Öffnung des marokkanischen Militärwalls in Guerguerat spielt eine wichtige Rolle bei der illegalen Plünderung des Territoriums durch Marokko. Marokko möchte den Übergang offen halten, um den Handelsverkehr der Produkte, die es völkerrechtswidrig in der Westsahara ausbeutet, aufrechtzuerhalten. Im Jahr 2020 lösten marokkanische Streitkräfte einen sahrauischen Protest in Guerguerat auf und brachen damit das Waffenstillstandsabkommen, was zu einem erneuten Aufflammen des bewaffneten Konflikts führte.  

Das Recht des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung wird durch mehr als 100 UN-Resolutionen, durch das oben erwähnte Gutachten des Internationalen Gerichtshofs und durch bisher vier Urteile des Europäischen Gerichtshofs unterstützt.

"Thus the Court has not found legal ties of such a nature as might affect the application of General Assembly resolution 1514 (XV) in the decolonization of Western Sahara and, in particular, of the principle of self-determination through the free and genuine expression of the will of the peoples of the Territory."

International Court of Justice, 16 October 1975

 

Marokko hat jedoch zwei Hauptverbündete: seine ehemalige Kolonialmacht Frankreich und das Nachbarland Spanien. Frankreich unterhält umfangreiche wirtschaftliche Beziehungen zu Marokko und eine große marokkanische Diaspora im eigenen Land. Spanien grenzt im Süden an Marokko und pflegt vor allem wegen Fragen der Migration gute diplomatische Beziehungen zu seinem Nachbarn.

Das Duo Frankreich und Spanien verteidigt Marokko auf allen Ebenen. Gemeinsam gelingt es den Regierungen und einer Mehrheit der politischen Parteien aus Spanien und Frankreich, einen solchen Druck auf die Institutionen der EU auszuüben, dass sogar EU-Politik von marokkanischen Positionen geprägt ist. Versuche nordeuropäischer, afrikanischer oder lateinamerikanischer Staaten, den Einfluss der Allianz einzuschränken, haben sich bisher als aussichtslos erwiesen.

Eine Gruppe namens "Freunde der Westsahara" arbeitet informell auf Ebene des UN-Sicherheitsrats an der Vorbereitung der Resolutionen des Rates. Die Gruppe ist nicht offiziell ernannt worden und hat kein formelles Mandat. Keiner der fünf Staaten in der Gruppe ist ein besonders guter „Freund“ des Volkes der Westsahara, und Spanien und Frankreich halten zwei der fünf Sitze (die übrigen sind die USA, Großbritannien und Russland). Jegliche Versuche, die Zusammensetzung der Gruppe zu ändern, werden von den Staaten abgelehnt, die für sich beanspruchen, "Mitglieder" der Gruppe zu sein.

"Die Generalversammlung [...] bedauert zutiefst die Verschärfung der Situation, die sich aus der fortgesetzten Besatzung der Westsahara durch Marokko und der Ausweitung dieser Besatzung auf das kürzlich von Mauretanien geräumte Gebiet ergibt".

UN-Generalversammlung, Resolution 34/37, 1979


Als das Franco-Regime in Spanien zusammenbrach, teilte die spanische Regierung der UNO einseitig mit, dass sie ihre Zuständigkeiten in der Westsahara beendet habe. Diese Erklärung wurde von der UNO nicht anerkannt. Der Bereich Rechtsangelegenheiten des UN-Sekretariats stellte 2002 fest, dass Spanien nicht auf diese Weise handeln könne, und dass das Territorium daher auf der Liste der Kolonien der UN-Generalversammlung bleibe. Selbst der Oberste Gerichtshof Spaniens kam 2015 zu dem Schluss, dass Spanien weiterhin als Verwaltungsmacht die Verantwortung für das Territoriums trage, was Madrid jedoch nicht akzeptieren will. Bis heute haben die sich abwechselnden spanischen Regierungen - unabhängig von ihrer politischen Zusammensetzung - ihre Position verteidigt, indem sie auf die einseitige Entscheidung des Franco-Regimes verwiesen, das Gebiet unter Verletzung der Prinzipien der UN-Charta an Marokko abzugeben.

Eine gut verständliche Einführung in den gescheiterten Friedensprozess finden Sie in diesem Bericht aus dem Jahr 2016.

Die Flüchtlinge

Etwa 200.000 Sahrauis leben in Flüchtlingslagern in der Nähe der algerischen Stadt Tindouf, nahe der Grenze zur Westsahara.

Die Lager befinden sich in einem Teil der Sahara, der in der Vergangenheit nicht bewohnt war. Im Sommer herrschen dort Temperaturen von über 50 Grad, während es im Winter oft Frost gibt. Die harten Bedingungen machen die dort lebenden Sahrauis völlig abhängig von internationaler humanitärer Hilfe. Sie kommen jedoch in beachtlicher Weise mit den Widrigkeiten zurecht.

Die internationale Hilfe wird von den Flüchtlingen selbst organisiert und verteilt. Internationale Beobachter bezeichnen die Lager als die am besten organisierten Flüchtlingslager der Welt. Beschämenderweise wurde die internationale Hilfe in den letzten Jahren Schritt für Schritt reduziert. Dadurch wird es zunehmend schwieriger, akzeptable Lebensbedingungen aufrechtzuerhalten, was zu Mangel- und Unterernährung führt. Der UN-Generalsekretär appelliert immer wieder an die internationale Gemeinschaft, die Mittel für die humanitäre Hilfe aufzustocken. 

Insgesamt gibt es fünf sahrauische Flüchtlingslager, die alle nach Orten in der besetzten Westsahara benannt sind. Üblicherweise leben in jedem der Lager die Menschen, die aus den gleichen Gebieten im besetzten Territorium stammen.

Zusätzlich zur Bevölkerung in den Lagern sind die Sahrauis über die ganze Welt verstreut. Die größte Diaspora findet sich auf den Kanarischen Inseln und dem spanischen Festland. 

Keine:r von ihnen wurde jemals um Zustimmung gebeten, wenn internationale Firmen und ausländische Regierungen Zugang zu den Reichtümern ihrer Heimat haben wollen.

 Die UN-Mission für ein Referendum in der Westsahara (MINURSO) ist seit 1991 in dem Territorium stationiert. UN-Foto/Martine Perret
Die Menschenrechtsverletzungen

Die Westsahara gehört zu den Ländern der Welt, die sich in der Rangliste der bürgerlichen und politischen Freiheiten auf den untersten Plätzen wiederfinden. Der dort stationierten UN-Friedensmission ist es jedoch nicht erlaubt, über die von ihnen beobachteten Verletzungen zu berichten.

Wenn Sahrauis in der besetzten Westsahara auf offener Straße Opfer massiver Gewalt seitens der marokkanischen Polizei werden, können sie UN-Fahrzeuge an sich vorbeifahren sehen. Unter normalen Umständen würden die UN-Mitarbeiter:innen über Menschenrechtsverletzungen berichten, deren Zeuge sie sind. Aber die Westsahara ist kein normaler Ort in der Welt. Die UN-Mission MINURSO ist die einzige moderne UN-Friedensmission, die über keinerlei Mandat verfügt, über das zu berichten, was sie beobachtet.

Das liegt vor allem an Frankreich.

Die französische Regierung arbeitet aktiv daran, die Aufnahme einer Menschenrechtskomponente in den Aufgabenbereich der MINURSO zu verhindern. Sowohl die USA als auch Großbritannien haben bereits im UN-Sicherheitsrat vorgeschlagen, die MINURSO mit einem solchen Mandat auszustatten, aber Frankreich lehnt dies stets ab.

 Das letzte Mal, dass ein UN-Sonderberichterstatter für Menschenrechte die Westsahara besuchte, war im Jahr 2013, als der Sonderberichterstatter für willkürliche Inhaftierungen in das Gebiet reiste. Die Gruppe dokumentierte die weit verbreitete Anwendung von willkürlicher Inhaftierung und Folter. Seitdem hat Marokko weitere Besuche nicht mehr zugelassen. Die Liste der verschwundenen Sahrauis umfasst Hunderte von Namen und spanische Gerichtsmediziner:innen konnten einige der Verschwundenen unter den Personen identifizieren, die sie aus Massengräbern exhumiert hatten.

Laut der marokkanischen Verfassung ist die Westsahara ein integraler Bestandteil des Königreichs. Sahrauis, die dies in Frage stellen und das von der UNO geforderte Recht auf Selbstbestimmung einfordern, riskieren, schweren Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt zu werden.

Das Video unten zeigt, wie der sahrauische Journalist Walid El Batal am 7. Juni 2019 aus seinem Auto gezerrt wird. Ein halbes Jahr später wurde er wegen Widerstand gegen die Staatsgewalt zu zwei Jahren Haft verurteilt. Die UNO forderte Marokko daraufhin auf, seine Inhaftierung und die anschließende Folter zu untersuchen.

Die Geschichte der Westsahara ist geprägt von mutigen Sahrauis, die Opfer von Übergriffen und Gewalt geworden sind.

Im Jahr 2010 wurden Dutzende Sahrauis inhaftiert, die meisten weil sie die Organisation eines friedlichen Protestcamps unterstützt hatten, das Sahrauis jeden Alters in einem Wüstengebiet außerhalb der Hauptstadt El Aaiún errichtet hatten. Es hatte damit begonnen, dass eine Handvoll Sahrauis mit Zelten ein kleines Lager errichtete. Im Laufe der Tage war diese Gruppe auf über 10.000 Menschen angewachsen, die alle die Gewährung grundlegender sozioökonomischer Rechte einforderten. Gdeim Izik, das Camp der Würde, machte den Anfang, bevor der Arabische Frühling auch in anderen arabischen Ländern begann.

Am 7. November 2010, nach Monaten des friedlichen Protests, griff die marokkanische Polizei ein. Es kam zu Kämpfen zwischen der Polizei und den frustrierten Sahrauis, bei denen es auf beiden Seite Tote gab. Marokko verwehrte ausländischen Beobachter:innen, Journalist:innen und sogar der UN-Mission den Zugang zum Camp. Nach drei Jahren wurde eine Gruppe von 25 Sahrauis vor einem marokkanischen Militärgericht wegen ihrer angeblichen Beteiligung an der Organisation des Lagers zu Freiheitsstrafen verurteilt; die meisten Urteile lagen zwischen 20 Jahren und lebenslänglich. Sieben Jahre später wurde der Fall vor einem zivilen Gericht angefochten, aber die Urteile wurden größtenteils aufrechterhalten. Im Jahr 2020 bestätigte das marokkanische Kassationsgericht die Urteile erneut.

Die einzigen Beweise, die gegen die Männer vorgebracht wurden, waren Geständnisse, die unter Folter abgegeben wurden. Hier ist ein Bericht über den kafkaesken Prozess gegen die Gruppe.

28. September 2021