Drei Monate sind vergangen, seit der Europäische Gerichtshof Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko in der besetzten Westsahara verboten hat. Die EU-Kommission ist immer noch ratlos, wie es nun weitergehen soll.
Anhörungen in drei verschiedenen Ausschüssen des Europäischen Parlaments im Laufe des Herbstes deuten darauf hin, dass die EU-Kommission Schwierigkeiten hat, auf die jüngste Serie von Urteilen des Europäische Gerichtshof (EuGH) zum Handel mit der Westsahara zu reagieren.
Diese neuen Urteile folgten im Oktober 2024 auf sieben frühere Urteile, die seit 2015 alle zu dem Schluss kamen, dass EU-Abkommen mit Marokko nicht ohne die Zustimmung des Volkes der Westsahara auf das Gebiet angewendet werden können. Die Urteile von 2024 kamen zu genau demselben Schluss.
Im Herbst 2024 fand in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments für internationalen Handel (INTA), Fischerei (PECH) und Landwirtschaft (AGRI) jeweils eine erste Anhörung mit Vertreter:innen der EU-Kommission statt, um zu erfahren, wie die EU-Kommission auf die Urteile reagieren wird. Die Entscheidung, diese Debatten in den Fachausschüssen und nicht im Plenum zu führen, wurde Anfang Oktober 2024 getroffen.
In allen drei Anhörungen erklärten verschiedene Abteilungen der EU-Kommission, dass sie noch analysieren, wie sie mit den Urteilen umgehen sollen, und dass sie die Ausschüsse informieren, sobald sie konkretere Ideen haben. Die Abgeordneten aller Fraktionen äußerten sich unzufrieden über die mangelnden Fortschritte der Kommission im Kontext von Urteilen, die nach Ansicht der Abgeordneten erwartbar waren.
Die Kommission hat nicht vor, während der ersten Sitzungen der drei Ausschüsse im neuen Jahr etwas vorzulegen. Das deutet darauf hin, dass seit der letzten der drei Anhörungen – der im INTA-Ausschuss Anfang Dezember 2024 - kaum Fortschritte erzielt wurden. Auf der Tagesordnung des INTA steht jedoch ein Meinungsaustausch hinter verschlossenen Türen zwischen der Monitoring Group des Ausschusses für den Maghreb und der Frente Polisario am 28. Januar 2025.
Aus den Präsentationen der Kommission vor den Ausschüssen des Parlaments ging hervor, dass sie insbesondere die Optionen untersucht, die sich durch die Möglichkeit der vermuteten Zustimmung bieten. In den Urteilen von 2024, mit denen das Handels- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in der Westsahara erneut annulliert wurde, argumentierte der Gerichtshof, dass es von entscheidender Bedeutung ist, dass das Volk des Gebiets der Anwendung eines Abkommens auf ihr Land zustimmt. Die Zustimmung kann jedoch auch - unter sehr strengen Bedingungen - vermutet werden kann. Die beiden Bedingungen für eine vermutete Zustimmung sind vom Gerichtshof in Art. 153 des Handelsurteils und in Art. 181 des Fischereiurteils dargelegt:
Bemerkenswerterweise erwähnte die EU-Kommission in keiner der Präsentationen vor den Ausschüssen, dass der EU-Gerichtshof betont hat, dass die Zustimmung, einschließlich der vermuteten Zustimmung, vom Volk der Westsahara und nicht von der Bevölkerung in der Westsahara stammen muss. Dieses Argument wird in allen Urteilen angeführt, auch in den Artikeln, in denen die Bedingungen für die vermutete Zustimmung dargelegt werden. Der Gerichtshof erklärt unmissverständlich, dass die Mehrheit der Bevölkerung der Westsahara nicht zu dem Volk gehört, welches das Recht auf Selbstbestimmung hat, und dass die Mehrheit des Volkes vertrieben wurde. Es ist das Volk, das das Recht auf Selbstbestimmung hat, das seine Zustimmung geben sollte.
Die wichtigsten Erkenntnisse der jüngsten Gerichtsurteile finden Sie hier.
Es ist besorgniserregend, dass die EU-Kommission dieses besondere, entscheidende Element der Urteile verschleiert. Nach den Gerichtsurteilen von 2016 und 2018 – in denen die Handels- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in der Westsahara bereits wegen fehlender Zustimmung der Sahrauis für nichtig erklärt wurden – entschied sich die EU-Kommission dafür, marokkanische Unternehmen, gewählte Vertreter:innen und Organisationen zu konsultieren, anstatt die Zustimmung des sahrauischen Volkes einzuholen. Das Gericht hat diesen Ansatz entschieden abgelehnt.
"Das Verhalten in der Vergangenheit ist der beste Prädiktor für zukünftiges Verhalten, und wir sind daher besorgt, dass die Kommission untersuchen könnte, welche Optionen zur Verfügung stehen, um den Eindruck einer vermuteten Zustimmung auf der Grundlage marokkanischer, nicht sahrauischer Akteure zu erwecken", sagt Sara Eyckmans, Koordinatorin von Western Sahara Resource Watch (WSRW). "Die Beziehungen der EU zu Marokko sind von großer Bedeutung, und es sollten Anstrengungen unternommen werden, um sie aufrechtzuerhalten. Wir ermutigen die Institutionen jedoch, solche Bemühungen mit den Entscheidungen ihres höchsten Gerichts in Einklang zu bringen und sich in allen Angelegenheiten, die das Gebiet betreffen, sich auf das Volk – nicht auf die Bevölkerung – der Westsahara zu beziehen. Sie haben das Recht auf Selbstbestimmung, was bedeutet, dass sie das souveräne Recht auf die Ressourcen des Gebiets haben. Dies zu respektieren ist die einzige Möglichkeit für die EU, sich an das Völker- und EU-Recht zu halten."
Was genau wurde in den Ausschüssen des EU-Parlaments für internationalen Handel, Landwirtschaft und Fischerei gesagt wurde, haben wir für Sie hier aufgelistet.
PECH-Anhörung – 17. Oktober 2024
Im Oktober erklärte Luis Molledo, amtierender Leiter der Abteilung für Handelsverhandlungen und nachhaltige Fischerei-Partnerschaftsabkommen in der Fischereiabteilung der EU-Kommission (GD MARE), vor dem Fischereiausschuss des EU-Parlaments, dass Zeit benötigt werde, um die Urteile zu bewerten, und betonte die Absicht der EU, "unsere engen Beziehungen zu Marokko zu bewahren und weiter zu stärken".
Die Mitglieder des PECH-Ausschusses, die das gesamte politische Spektrum repräsentieren, äußerten einhellig ihre Enttäuschung über die Kommission. Während der Europäische Gerichtshof im Oktober 2024 das Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in der Westsahara für illegal erklärte, war das Abkommen selbst bereits im Juli 2023 ausgelaufen. Darüber hinaus war das Abkommen in der Westsahara bereits 2018 für nichtig erklärt worden, und die EU-Kommission entschied sich im Anschluss für ein geändertes Abkommen mit Marokko, das dem Urteil von 2018 nicht entsprach.
Gleichzeitig sind sich die Mitglieder des PECH uneins darüber, wie es weitergehen soll. Carmen Crespo (S&D, Spanien) und Francisco José Millán Mon (EPP, Spanien) betonten die Bedeutung des Abkommens für den spanischen Fischereisektor, ebenso wie Nicolás González Casares (S&D, Spanien), der erklärte, dass "der Gerichtshof die Chance auf ein Abkommen untergraben hat", und fügte hinzu – ohne Rücksicht auf die Besatzung der Westsahara – dass "Marokko und Russland ihr Fischereiabkommen verlängert haben, sodass das Gebiet, das uns gehören sollte, von anderen besetzt ist, die nicht so nachhaltige Techniken anwenden wie wir."
France Jamet (Patriots for Europe, Frankreich) erklärte, dass "die Demokratie von einer Gruppe von Richter:innen untergraben wird" und dass "der Gerichtshof nur aus einer Laune heraus entschieden hat".
Emma Wiesner (Renew, Schweden) hielt das Urteil des Gerichtshofs für eindeutig, was die Notwendigkeit betrifft, die Zustimmung dee Volkes der Westsahara einzuholen, und plädierte für eine gründliche Debatte darüber, wie "Handelsbeziehungen mit Ländern, die in territoriale Streitigkeiten verwickelt sind, angegangen werden können, während gleichzeitig das Völkerrecht und das Engagement der EU für die Menschenrechte gewahrt bleiben". Isabella Lövin (Grüne, Schweden) verwies auf die Pressemitteilung des EU-Gerichtshofs, dass jedes künftige Abkommen die Zustimmung des sahrauischen Volkes benötige, "nicht die der lokalen Bevölkerung in der Westsahara, bei der es sich derzeit um aus Marokko umgesiedelte Menschen und nicht um Sahrauis aus der Region handelt". Luke Ming Flanagan (GUE/NGL, Irland) sagte, dass die EU ihre Handelsmacht nutzen sollte, um sicherzustellen, dass die Menschen unterdrückt werden.
Ein vollständiges Transkript des Meinungsaustauschs mit der EU-Kommission über die Urteile des EuGH zur Aufhebung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara im PECH-Ausschuss vom 17. Oktober 2024, erstellt von WSRW, ist hier verfügbar.
AGRI-Anhörung – 18. November 2024
Mauro Pionelli, Leiter des Referats für Wein, Spirituosen und Gartenbauprodukte bei der Generaldirektion Landwirtschaft und ländliche Entwicklung der EU-Kommission, erklärte den Mitgliedern des Landwirtschaftsausschusses, dass es noch zu früh sei, weitere Schritte anzukündigen, und dass die Kommission mehr Zeit für die Bewertung benötige. Er erklärte jedoch, dass "es wichtig ist, hervorzuheben, dass der Gerichtshof der Ansicht ist, dass die Zustimmung des Volkes der Westsahara zu dem betreffenden Abkommen nicht unbedingt ausdrücklich zum Ausdruck gebracht werden muss. Tatsächlich sagt der Gerichtshof, dass das Völkerrecht die Möglichkeit einer stillschweigenden Zustimmung nicht ausschließt, sofern bestimmte Bedingungen erfüllt sind."
Pionelli führte die beiden Bedingungen auf, die das Gericht für die Feststellung einer vermuteten Zustimmung aufgestellt hat: Erstens, dass das Abkommen keine Verpflichtungen für das Volk mit sich bringt, und zweitens, dass es vorsieht, dass dem Volk ein präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil erwächst, der in angemessenem Verhältnis zum Ausmaß der Nutzung steht.
Pionelli erklärte nicht, dass sich die Bedingungen für die vermutete Zustimmung auf das Volk und nicht auf die Bevölkerung der Westsahara beziehen.
Viele Abgeordnete des Europäischen Parlaments betonten, dass es bereits Probleme mit dem Handelsabkommen mit Marokko gebe, insbesondere im Zusammenhang mit Tomaten, bei denen marokkanische Erzeuger:innen gegenüber ihren EU-Kolleg:innen unfaire Vorteile hätten. Verschiedene Fraktionen wiesen auf die Notwendigkeit hin, bessere Kontrollen und Rückverfolgbarkeit einzuführen und die Interessen der EU-Landwirt:innen über andere Handelsaspekte zu stellen.
Eine vollständige Abschrift des Meinungsaustauschs mit der EU-Kommission über die Urteile des EuGH zur Aufhebung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara im AGRI-Ausschuss vom 18. November 2024, erstellt von WSRW, ist hier verfügbar.
INTA-Anhörung – 2. Dezember 2024
Mercedes Bonet Gonzales, eine Direktorin der Generaldirektion Handel (GD Handel) der EU-Kommission, konzentrierte sich auf die Gerichtsurteile zum Handelsabkommen und zum Urteil über die Identifizierung und Kennzeichnung von Produkten aus der Westsahara. Sie konzentrierte sich auf die Bedingungen für die Annahme der Zustimmung und ließ dabei aus, dass die Bedingungen für das Volk der Westsahara gelten und nicht für die derzeitige Bevölkerung des Gebiets. Sie betonte, dass die Dienststellen der Kommission die Urteile noch studierten.
In Bezug auf das Urteil zur Kennzeichnung sagte sie, dass die Kommission die EU-Mitgliedstaaten in den Ratsgruppen bereits auf ihre Verantwortung zur Durchsetzung und Umsetzung des Urteils hingewiesen habe.
Maria Isabel Garcia Catalan, Leiterin der Abteilung für Ursprungsregeln und Zollwert bei der Generaldirektion Steuern und Zollunion (GD TAXUD) der EU-Kommission, erklärte, dass "der Gerichtshof ein wenig mehr Angaben gemacht habe, wie diese Zustimmung – die vermutete Zustimmung – eingeholt werden kann. Unter diesem Gesichtspunkt arbeitet die Kommission." Sie ging zu keinem Zeitpunkt auf die Unterscheidung des Gerichtshofs zwischen dem Volk und der Bevölkerung des Gebiets ein.
Mitglieder des INTA aus allen Fraktionen äußerten sich enttäuscht über den mangelnden Fortschritt der Kommission zwei Monate nach den jüngsten Urteilen. Viele betonten auch die Notwendigkeit, die Beziehungen zu Marokko zu stärken und aufrechtzuerhalten.
Die ständige Berichterstatterin für den Handel mit dem Maghreb, Lynn Boylan (GUE/NGL, Irland), erklärte, dass dies ihrer Meinung nach "drei Konsequenzen hat. Erstens für die EU die Notwendigkeit, das Völkerrecht und die Gerichtsentscheidungen einzuhalten, für Marokko der Verlust von Zollpräferenzen für Produkte aus der Westsahara, was sich auf die Exporte von Landwirtschaft und Fischerei auswirkt, und dann für die Westsahara selbst die Anerkennung der Notwendigkeit, die Zustimmung des sahrauischen Volkes für die Ausbeutung ihrer natürlichen Ressourcen einzuholen."
Eine vollständige Abschrift des Meinungsaustauschs mit der EU-Kommission über die Urteile des EuGH zur Annullierung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara im INTA-Ausschuss vom 2. Dezember 2024, erstellt von WSRW, ist hier verfügbar.
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WSRW hat die wichtigsten Ergebnisse des wegweisenden Urteils des EU-Gerichtshofs zur Westsahara vom 4. Oktober 2024 zusammengefasst.
Ein von der EU-Kommission erstellter Bericht gibt Aufschluss über die enorme Summe, die die EU in nur einem Jahr und das allein im Rahmen des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko den Sahrauis vorenthält.
Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen, in drei Parlamentsausschüssen Debatten über den Ausschluss der Westsahara aus den Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko zu führen.
In einem weiteren Urteil vom 4. Oktober 2024 entschied der EU-Gerichtshof, dass Produkte aus der Westsahara auf dem EU-Markt nicht als "aus Marokko" gekennzeichnet werden dürfen.