Bei all den verschiedenen Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit der Westsahara ist es nicht einfach, den Überblick zu bewahren. Zur besseren Verständlichkeit finden Sie hier eine Übersicht über die fünf Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Die Frente Polisario - die von den Vereinten Nationen anerkannte Vertretung des Volkes der Westsahara - hat mehrere Klagen gegen den EU-Rat vor dem Europäsichen Gerichtshof (EuGH) bzw. vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) eingereicht. Ihr Grund für die Klage? Die EU-Abkommen mit Marokko wurden auf das besetzte Land des sahrauischen Volkes, die Westsahara, angewandt.
Das letzte Urteil des Gerichts der EU (EuG) stammt vom 29. September 2021. Das Gericht urteilte in den folgenden drei Rechtssachen:
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtssachen T-344/19 und T-356/19, die beide die Anwendung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko auf die Westsahara betreffen, vom Gerichtshof zusammengeführt worden sind. Darüber hinaus hat der Gerichtshof beschlossen, ein einziges Urteil in diesen beiden Rechtssachen sowie in der Rechtssache T-279/19 (Anwendung des geänderten Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Marokko auf die Westsahara) zu erlassen.
Am 2. und 3. März 2021 hatte das Gericht eine Anhörung der Parteien durchgeführt. Am 29. September 2021 erfolgte das Urteil in den Rechtssachen T 344/19, T 356/19 (beide Fischerei) und in der Rechtssache T-279/19 (Handel). Die begleitende Pressemitteilung des Gerichtshofs zu den Urteilen ist hier abrufbar.
In den Urteilen wurde die Rechtspersönlichkeit der Frente Polisario als international anerkannte Vertretung des Volkes der Westsahara klargestellt. Außerdem wurde erneut bestätigt, dass die Westsahara einen von Marokko gesonderten und unterschiedlichen Status hat und als solche als Drittpartei eines jeden Abkommens zwischen der EU und Marokko zu betrachten ist. Die Ausdehnung des territorialen Geltungsbereichs eines solchen Abkommens auf das Hoheitsgebiet der Westsahara erfordert notwendigerweise die Zustimmung des Volkes der Westsahara durch ihre Vertretung, wiederholte der Gerichtshof und fügte hinzu, dass die von den EU-Organen durchgeführten Konsultationen der lokalen Bevölkerung diese Voraussetzung nicht erfüllten. Der Gerichtshof hat damit im Wesentlichen dieselbe Argumentationslinie wie in den Urteilen aus den Jahren 2016 und 2018 vertreten (siehe unten).
Sowohl der EU-Rat als auch die EU-Kommission legten gegen das Urteil Berufung ein. Die Kommission legte am 14. Dezember 2021 Berufung gegen das Urteil zur Nichtigerklärung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara (C-779/21 P) sowie gegen das Urteil zur Nichtigerklärung des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko in diesem Gebiet (C-778/21 P) ein. Zwei Tage später, am 16. Dezember 2021, folgte der Rat und legte ebenfalls Berufung gegen das Urteil zum Handelsabkommen (C-799/21 P) und zum Fischereiabkommen (C-798/21 P) ein. Eine Entscheidung in den Berufungsverfahren steht weiterhin aus und wird Anfang 2024 erwartet.
Derzeit ist zwei Rechtssachen der Frente Polisario vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) anhängig:
Die folgenden von der Frente Polisario angestrengten Rechtssachen gegen den EU-Rat wurden vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verhandelt und sind abgeschlossen. Eine Chronik jeder dieser Rechtssachen finden Sie weiter unter auf dieser Seite:
Im Vereinigten Königreich reichte die NGO Westsahara Campaign UK im Jahr 2015 vor dem UK High Court Klage gegen zwei britische Regierungsbehörden ein: gegen Her Majesty's Revenue and Customs (HRMC) und den Secretary of State for the Environment, Food and Rural Affairs (DEFRA). Western Sahara Campaign UK argumentierte, dass das Vereinigte Königreich die Einfuhr von Erzeugnissen, die aus der Westsahara stammen oder dort verarbeitet wurden, rechtswidrig im Rahmen eines Handelsabkommens mit Marokko zulässt.
Es folgt die Chronik jedes dieser Gerichtsverfahren mit den wichtigsten Ereignissen.
1. KLAGE DER POLISARIO GEGEN DEN EU-RAT BEZÜGLICH DES EU-MAROKKO AGRARABKOMMENS
März 2000 - Das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Marokko tritt in Kraft. Damit wird eine Freihandelszone geschaffen, die den Warenverkehr in beide Richtungen liberalisiert.
Oktober 2005 - Der EU-Rat erteilt der EU-Kommission ein Mandat für Verhandlungen über eine weitere Liberalisierung des Handels mit (verarbeiteten) Agrar- und Fischereierzeugnissen.
02. Dezember 2010 - Der EU-Rat unterzeichnet das Agrarabkommen.
12. Juli 2011 – Der Berichterstatter des Europäischen Parlaments im Landwirtschaftsausschuss empfiehlt dem Parlament, den Abschluss der Vorschläge in Bezug auf das Agrarabkommens abzulehnen.
26. Januar 2012 - Der Ausschuss für internationalen Handel des Europäischen Parlaments (INTA) stimmt für das Agrarabkommen, trotz der Empfehlung seines eigenen Berichterstatters, der die Ablehnung des Abkommens fordert.
14. Februar 2012 - WSRW veröffentlicht den Bericht "Conflict Tomatoes", der das massive Wachstum der marokkanischen Agrarindustrie in der besetzten Westsahara und den Export der Produkte in die EU aufzeigt.
16. Februar 2012 - Das Europäische Parlament bewilligt in der Plenarsitzung das Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko. (369 Abgeordnete stimmten dafür, 225 dagegen und 31 enthielten sich)
08. März 2012 - Der EU-Rat schließt das Agrarabkommen mit Marokko formell ab.
17. Juni 2012 - WSRW veröffentlicht den Bericht "Label and Liability" (Etikett und Haftung), der dokumentiert, wie Produkte aus der Westsahara als marokkanisch gekennzeichnet auf dem EU-Markt landen.
12. September 2012 - Die EU-Kommission setzt das neue Abkommen um.
01. Oktober 2012 – Das Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko tritt in Kraft.
19. November 2012 - Die Frente Polisario reicht Klage gegen den EU-Rat ein (Rechtssache T-512/12) und beantragt die Annullierung des Ratsbeschlusses über den Abschluss des Agrarabkommens mit Marokko.
10. Dezember 2015 - Der EuGH erklärt das Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko in soweit für nichtig, wie es die Westsahara betrifft.
19. Februar 2016 - Der EU-Rat legt Rechtsmittel gegen die Entscheidung des Gerichtshofs ein, das Agrarabkommen zwischen der EU und Marokko für nichtig zu erklären, soweit es auf die Westsahara angewendet wurde.
13. September 2016 - Der Generalanwalt des EuGH stellt seine Schlussanträge in der Rechtssache C-104/16 P vor (Antragstext hier) und kommt laut Pressemitteilung zu dem Schluss, dass "die Westsahara nicht Teil des marokkanischen Hoheitsgebiets ist und daher entgegen den Feststellungen des Gerichts weder das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und Marokko noch das Liberalisierungsabkommen auf sie anwendbar sind.“
21. Dezember 2016 - Der Gerichtshof der EU bestätigt in seinem letzten Urteil die Argumentation des Generalanwalts und hebt das ursprüngliche Urteil vom Dezember 2015 auf. Der Grund für die Annullierung ist, dass die Abkommen von 2000 und 2012 nicht auf die Westsahara angewendet werden können. Der Gerichtshof argumentierte, dass die Westsahara einen sich aus „dem Grundsatz der Selbstbestimmung ergebenden gesonderten und unterschiedlichen Status" innehabe (Art. 92) und dass "das Volk der Westsahara daher als „Dritter“ " in Bezug auf das Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Marokko angesehen werden muss. "Beim Einschluss des Gebiets der Westsahara in den Geltungsbereich des Assoziationsabkommens kann es als ein solcher Dritter durch die Durchführung des Abkommens betroffen sein, ohne dass ermittelt werden müsste, ob diese ihr schaden oder vielmehr nützen könnte. In beiden Fällen müsste die Durchführung des Abkommens nämlich mit Zustimmung des Dritten erfolgen. Im vorliegenden Fall ist aus dem angefochtenen Urteil aber nicht ersichtlich, dass das Volk der Westsahara eine solche Zustimmung erklärt hätte. " (Art. 106)
Die Pressemitteilung des Gerichtshofs finden Sie hier.
2. KLAGE DER POLISARIO GEGEN EU-RAT BEZÜGLICH DES EU-MAROKKO FISCHEREIABKOMENS
14. Dezember 2011 - Das Europäische Parlament lehnt die einjährige Verlängerung des Protokolls zum partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko ab.
5. Januar 2012 - Die EU-Kommission bittet die EU-Mitgliedstaaten um ein Mandat zur Neuverhandlung eines Fischereiabkommens mit Marokko.
24. Juli 2013 - Die EU-Kommission initiiert ein neues Fischereiabkommen mit Marokko, das EU-Schiffen die Wiederaufnahme der Fischerei in den Gewässern der Westsahara erlaubt.
13. November 2013 - Der EU-Rat (COREPER) beschließt, das vorgeschlagene neue Fischereiprotokoll mit Marokko zu unterstützen. Das offizielle Protokoll der Sitzung finden Sie hier. Schweden, Dänemark, Finnland, das Vereinigte Königreich und die Niederlande unterstützen das Abkommen nicht.
10. Dezember 2013 - Das Europäische Parlament stimmt für das neue Fischereiprotokoll zwischen der EU und Marokko.
16. Dezember 2013 - Der EU-Rat schließt das Protokoll zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko zur Festlegung der Fangmöglichkeiten und der finanziellen Gegenleistung nach dem partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko ab.
14. März 2014 - Die Frente Polisario reicht Klage ein gegen den EU-Rat (Rechtssache T-180/14) und beantragt die Annullierung des Ratsbeschlusses über den Abschluss des partnerschaftlichen Fischereiabkommens mit Marokko.
15. Juli 2014 - Das Abkommen tritt in Kraft.
2015 - Der Gerichtshof beschließt, zunächst über eine verwandte Rechtssache von Western Sahara Campaign UK und später über die Polisario-Klage zu entscheiden. Das Urteil im Fall Westsahara Campaign UK erging am 27. Februar 2018.
14. Juni 2018 - Die Polisario klagt gegen die Entscheidung des Rates vom 16. April 2018, Verhandlungen über ein neues Fischereiabkommen aufzunehmen (Rechtssache T-376/18).
19. Juli 2018 - Nur wenige Wochen vor Auslaufen des vierjährige Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko Ende Juli 2018 entscheidet der Gerichtshof der Europäischen Union in der Rechtssache T-180/14, dass das Abkommen nicht auf die Westsahara anwendbar ist.
3. KLAGEN VON WESTERN SAHARA CAMPAIGN GEGEN DIE BRITISCHE REGIERUNG
Februar 2015 - Western Sahara Campaign UK reicht Klage ein vor dem UK High Court gegen Her Majesty's Revenue and Customs (HRMC) und den Secretary of State for the Environment, Food and Rural Affairs (DEFRA).
15. Mai 2015 - Der UK High Court erteilt die Erlaubnis per Anordnung.
Juli 2015 - Die Anhörung zur Sache findet vor dem UK High Court statt.
Oktober 2015 - Der UK High Court verweist den Fall an den Gerichtshof der Europäischen Union (Rechtssache C-266/16). Der britische Richter erklärte: "Ich komme zu dem Schluss, dass ein offensichtlicher Fehler der Kommission beim Verständnis und der Anwendung des für diese Abkommen relevanten internationalen Rechts vorliegt."
September 2017 - Der EuGH hält eine Anhörung in der Sache ab.
Januar 2018 - Der Generalanwalt des EuGH veröffentlicht seine Schlussanträge zum partnerschaftlichen Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko und erklärt es für ungültig, da es auf die Westsahara angewendet wird.
27. Februar 2018 - Der Gerichtshof der Europäischen Union erklärt das Abkommen für unanwendbar auf die Westsahara.
Die Pressemitteilung des Gerichtshofs finden Sie hier.
25. März 2019 - Der UK High Court bestätigt das EU-Urteil und kommt zu dem Schluss, dass die Regierung des Vereinigten Königreichs unrechtmäßig gehandelt hat, als sie im Rahmen eines Abkommens mit Marokko Zollpräferenzen für Erzeugnisse aus der Westsahara gewährte und im Rahmen eines Fischereiabkommens mit Marokko Fischereiquoten für die Westsahara zugestand.
Die Pressemitteilung des Gerichtshofs finden Sie hier.
4. KLAGE DER POLISARIO GEGEN EU-RAT BEZÜGLICH DES EU-MAROKKO LUFTVERKEHRSABKOMMENS
Dezember 2006 - Das Luftverkehrsabkommen zwischen der Europäischen Union und dem Königreich Marokko tritt in Kraft.
Februar 2014 - Die EU-Kommission schlägt eine Änderung des Abkommens vor, um den Veränderungen innerhalb der EU (drei neue Mitgliedstaaten seit 2006 und der Vertrag von Lissabon) Rechnung zu tragen.
Oktober 2017 - Das Europäische Parlament billigt die geänderte Fassung des Abkommens.
Januar 2018 - Die geänderte Fassung des Abkommens wird vom Rat beschlossen.
24. April 2018 - Die Polisario leitet ein Verfahren ein, um die Anwendung des Luftverkehrsabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara zu stoppen (Rechtssache T-275/18).
30. November 2018 - Der Europäische Gerichtshof erklärt das Luftverkehrsabkommen der EU mit Marokko für nicht in der Westsahara gültig (Rechtssache T-275-18)
6. März 2020 - In einem Schreiben stellt die EU-Kommission klart, dass die Westsahara tatsächlich nicht mehr unter ein EU-Luftverkehrsabkommen fällt und dass "keine Verhandlungen zur Einbeziehung der Westsahara in ein Luftverkehrsabkommen geplant sind".
5. KLAGE DER POLISARIO GEGEN EU-RAT WEGEN VERHANDLUNGEN MIT MAROKKO BEZÜGLICH DES FISCHEREIABKOMMENS
27. Februar 2018 - Der Gerichtshof der Europäischen Union kommt zu dem Schluss, dass das partnerschaftliche Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko nicht auf die Westsahara angewendet werden kann, da dieses Territorium nicht unter marokkanische "Souveränität“ oder „Gerichtsbarkeit" fällt und nicht Teil der "marokkanischen Fischereizonen" ist - ein Begriff, der im gesamten Abkommen und seinen Durchführungsprotokollen verwendet wird.
16. April 2018 - Der Rat ermächtigt die Kommission zur Aufnahme von Verhandlungen mit Marokko über eine Änderung des territorialen Geltungsbereichs des partnerschaftlichen Fischereiabkommens (um die Westsahara einzubeziehen) und über den Abschluss eines neuen Fischereiabkommens.
14. Juni 2018 - Die Polisario reicht eine Klage ein zur Annullierung des Ratsbeschlusses zur Aufnahme von Gesprächen mit Marokko (Rechtssache T-376/18).
8. Februar 2019 - Der Gerichtshof erklärt den Antrag der Polisario auf Annullierung des genannten Ratsbeschlusses für unzulässig, da die Polisario von diesem Beschluss nicht direkt betroffen ist. Der Beschluss zielt nur darauf ab, zu bestimmen, wer die Verhandlungen führen wird, und entfaltet daher nur Rechtswirkungen zwischen den EU-Organen, so der Gerichtshof. Der Gerichtshof bekräftigt, dass das sahrauische Volk ein Selbstbestimmungsrecht genießt und in den Beziehungen zwischen der EU und Marokko als "Dritter" anzusehen ist.
WSRW hat die wichtigsten Ergebnisse des wegweisenden Urteils des EU-Gerichtshofs zur Westsahara vom 4. Oktober 2024 zusammengefasst.
Der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker kommt zu dem Schluss, dass die Besetzung der Westsahara durch Marokko eine schwere Verletzung des Rechts des sahrauischen Volkes auf Selbstbestimmung und Unabhängigkeit darstellt.
Inmitten der marokkanisch-spanischen Seestreitigkeiten vor der Küste der Westsahara setzt sich Marokko dafür ein, dass ein Verfechter der Besatzung der Westsahara Teil eines wichtigen wissenschaftlichen UN-Gremiums für maritime Kontinentalgrenzen wird.
Das italienische Unternehmen Enel gehört zu den Firmen, die mit der Durchführung von "Konsultationen von Interessengruppen" in der Westsahara genau die gleiche Vorgehensweise wie die EU gewählt haben - ein Verfahren, das nun vom Europäischen Gericht für nichtig erklärt wurde.