Brüssel und Rabat suchen nach Schlupflöchern, um Gerichtsurteile zur Westsahara zu umgehen
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Geheime Gespräche in Brüssel deuten darauf hin, dass Handelsvertreter:innen der EU und Marokkos möglicherweise Vorbereitungen treffen, um in Bezug auf die Westsahara das Völkerrecht zu umgehen.

29. Juli 2025

Weniger als drei Monate vor dem Auslaufen des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko über Agrar- und Fischereiprodukte finden in Brüssel heimliche Verhandlungen statt. Ihr Ziel? Eine politische Umgehungsstrategie für die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) zu finden, der solche Abkommen ohne die Zustimmung des Volkes der Westsahara für ungültig erklärt hat.

Der größte Teil der Westsahara steht seit 1975 unter Besatzung durch Marokko. Seit den wegweisenden Urteilen es EuGH vom Oktober 2024, in denen erneut bestätigt wurde, dass die Westsahara ein von Marokko gesondertes und unterschiedliches Gebiet ist und Marokko keine Souveränität oder Mandat über dieses Gebiet hat, steht Rechtsstaatlichkeit in direktem Konflikt mit politischen und wirtschaftlichen Druck, insbesondere vonseiten mächtiger marokkanischer Agrarexport- und europäischer Importunternehmen. Nun zeigen neue Enthüllungen von Africa Intelligence, dass marokkanische Wirtschaftseliten und europäische Beamt:innen trotz der Entscheidungen des Gerichtshofs rechtliche Grauzonen ausloten, um den Handelsfluss aus dem besetzten Gebiet aufrechtzuerhalten.

Am 11. Juni 2025 legte der Dachverband marokkanischer Unternehmen (CGEM) María Isabel García Catalán, Leiterin der Generaldirektion Steuern und Zollunion der Europäischen Kommission, einen Bericht über die „Auswirkungen” des Urteils des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 4. Oktober 2024 vor, wie der gut informierte Nachrichtendienst berichtet.

Zuvor hatte sich die CGEM laut Africa Intelligence mit dem finnischen Europaabgeordneten Pekka Toveri, Mitglied der Europäischen Volkspartei, getroffen. Die Gespräche wurden geführt von Abir Lemseffer, der Hauptkoordinatorin für die Beziehungen zwischen der CGEM und den EU-Institutionen und derzeitiger Stellvertreterin des führenden Tomatenproduzenten Marokkos, Azura, sowie Sébastien Gubel, einem belgischen Anwalt und Lobbyisten, der auf der Gehaltsliste von CGEM steht.

Im Mittelpunkt dieser laufenden Gespräche steht das Konzept der „vermuteten Zustimmung“. Der EuGH hat zwar klar festgestellt, dass die Zustimmung des sahrauischen Volkes eine Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit ist, aber auch erklärt, dass die Zustimmung entweder ausdrücklich erfolgen oder vermutet werden kann, wenn eine Reihe strenger Bedingungen erfüllt sind. Erstens dürfen dem Volk der Westsahara keine Verpflichtungen auferlegt werden.

Zweitens muss dem sahrauischen Volk – das nicht mit der Bevölkerung des Gebiets identisch ist – aus der Nutzung der natürlichen Ressourcen des Gebiets ein präziser, konkreter, substanzieller und überprüfbarer Vorteil erwachsen, der in angemessenem Verhältnis zum Ausmaß der Nutzung steht.

Die marokkanischen und europäischen Verhandlungsführer:innen scheinen diese rechtliche Nuance ausnutzen zu wollen: Die Zustimmung könnte unter bestimmten Voraussetzungen „implizit“ sein, wenn konkrete Vorteile für das sahrauische Volk bestehen und ihm keine Verpflichtungen auferlegt werden. Die vom EuGH festgelegten Bedingungen scheinen jedoch kaum zu erfüllen zu sein, wie im Artikel von WSRW im Anschluss an das Urteil dargelegt wurde. Die Urteile des EuGH befassen sich nicht mit der Umverteilung von Vorteilen, sondern in erster Linie mit der Achtung des Selbstbestimmungsrechts des Volkes der Westsahara. Das bedeutet beispielsweise, dass die Anwendung der vermuteten Zustimmung voraussetzen würde, dass Marokko das Gebiet der Westsahara als gesondert und unterschiedlich anerkennt und dass es in diesem Hoheitsgebiet nicht souverän handeln kann. Es ist unvorstellbar, dass Marokko dies akzeptieren würde – im Austausch für niedrigere Zölle auf Produkte aus Dakhla.

Marokkanische Agrarkonzerne wie Azura, Delassus und Les Domaines Agricoles (im Besitz der marokkanischen Monarchie) schlagen Berichten zufolge nun Finanzmechanismen vor, mit denen solche „Vorteile” demonstriert werden sollen. Laut Africa Intelligence könnte es sich dabei um nominelle Entwicklungsprojekte oder indirekte Finanzierungsprogramme handeln, die sogar bis in die sahrauischen Geflüchtetencamps in Algerien reichen.

Ob diese Maßnahmen einer rechtlichen Prüfung standhalten würden, ist jedoch ungewiss, zumal die Frente Polisario, die von den EU-Gerichten als legitime Repräsentantin des Volkes der Westsahara anerkannt ist, solche Rahmenbedingungen weiterhin anfechten könnte.

„Die EU-Institutionen stehen nun vor der Wahl, entweder die Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten oder Praktiken zu fördern, die sich offen darüber hinwegsetzen. Wie sie vorgehen, könnte nicht nur Aufschluss über die Haltung der EU zu den Rechten des Volkes der Westsahara geben, sondern auch über die Integrität ihres eigenen Rechtssystems”, sagt Sara Eyckmans von Western Sahara Resource Watch (WSRW).

Africa Intelligence berichtete am 4. Juli, dass Azura aufgrund von Insolvenz dabei ist, seine Unternehmensarchitektur auch in Dakhla umzustrukturieren und spekulierte, dass dieser Schritt darauf abzielt, sich an die neue Handelslandschaft der EU nach dem Urteil anzupassen.

WSRW berichtete gestern, dass spanische Landwirt:innen und eine Verbraucherschutzorganisation bei den spanischen Verbraucherschutzbehörden Beschwerde gegen die falsche Kennzeichnung von Azura-Tomaten durch Carrefour eingereicht haben.

Die falsche Kennzeichnung von Produkten aus der Westsahara als „Made in Morocco” steht nicht im Einklang mit dem Urteil des EuGH in einer separaten Rechtssache, das am selben Tag wie das oben genannte Urteil zum EU-Marokko-Handelsabkommen erging.

In diesem speziellen Urteil, ebenfalls vom 4. Oktober 2024, kam der Europäische Gerichtshof erneut zu dem Schluss, dass die Westsahara von Marokko gesondert und unterschiedlich ist und nach EU-Recht als separates Zollgebiet anzusehen ist. Daher entschied das Gericht, dass Fischerei- und Agrarerzeugnisse aus der Westsahara nicht als „Made in Morocco” auf dem EU-Markt verkauft werden dürfen.

Die Kennzeichnung von Produkten aus der Westsahara als „Made in Western Sahara” ist für die marokkanische Diplomatie jedoch undenkbar. Um diese Anforderung zu umgehen, erwägen Rabat und Brüssel mehrere Alternativen, wie Africa Intelligence berichtet.

Anfang dieses Jahres hatte African Intelligence enthüllt, dass CGEM – mit Geldern von Azura – die dänische PR-Agentur Rud Pedersen mit bis zu 200.000 Euro beauftragt hatte, sich nach den Urteilen des EuGH für den EU-Vertrieb des Unternehmens einzusetzen. Der Vertrag wurde von Abir Lemseffer ausgehandelt – also der Person, die nun für Azura die Gespräche mit der EU leitet.


 

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