In einem Schritt, der niemanden überraschte, hat der EU-Rat Berufung eingelegt gegen das jüngste Urteil des EU-Gerichtshofs, das den Handel und die Fischerei der EU in der besetzten Westsahara stoppt. Doch die Entscheidung des Rates war nicht einstimmig.
AKTUALISIERUNG, 06.12.2021:
Schweden und Dänemark haben Erklärungen zur Abstimmung in der Ratssitzung abgegeben:
13455/21 JUR, Rechtsmittel gegen die Urteile des Gerichts der EU in der Rechtssache T-279/19, Front Polisario/Rat und den verbundenen Rechtssachen T-344/19 und T-356/19, Front Polisario/Rat (…)
Erklärung Dänemarks: "Dänemark hat die rechtliche Bewertung und die Empfehlung des Juristischen Dienstes des Rates aufmerksam zur Kenntnis genommen. Auf dieser Grundlage unterstützt Dänemark ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts vom 29. September 2021 in der Rechtssache T-279/19 und in den verbundenen Rechtssachen T-344/19 und T-356/19, um vollständige Rechtssicherheit zu erlangen. Dänemark hat stets betont, dass die betreffenden Abkommen in diesen Rechtssachen mit dem Urteil des Gerichtshofs vom 21. Dezember 2016 in der Rechtssache C-104/16 P in Einklang stehen müssen und den Status der Westsahara nach EU- und Völkerrecht nicht präjudizieren dürfen. Dänemark unterstützt weiterhin den Prozess der Vereinten Nationen, um eine gerechte, dauerhafte und für beide Seiten akzeptable politische Lösung für die Westsahara zu finden."
Erklärung Schwedens: "Es ist wichtig, die Zusammenarbeit zwischen der EU und Marokko aufrechtzuerhalten. Schweden schätzt diese Zusammenarbeit sehr. Jedoch müssen Fragen, die die Westsahara betreffen, unter Beachtung des Völkerrechts behandelt werden. Schweden nimmt zur Kenntnis, dass das Gericht die partnerschaftlichen Agrar- und Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko unter Berufung auf das Völkerrecht für nichtig erklärt hat. Das Urteil vom 29. September steht im Einklang mit früheren Urteilen des Gerichtshofs und mit der Position Schwedens. Schweden teilt die Einschätzung des Gerichts und sieht keine Notwendigkeit für ein Rechtsmittel, wie vom Juristischen Dienst des Rates vorgeschlagen. Schweden wird daher gegen ein Rechtsmittel des Rates gegen das Urteil des Gerichts stimmen. Schweden akzeptiert, dass die Frage einer Berufung gegen das Gerichtsurteil vom AStV II als I-Punkt behandelt wird, möchte aber, dass sein Standpunkt festgehalten wird."
Western Sahara Resource Watch hat erfahren, dass Schweden gegen die Entscheidung des EU-Rates, gegen das Urteil des Gerichts der Europäischen Union vom September Berufung einzulegen, gestimmt hat. Das Urteil hatte sowohl das Landwirtschafts- als auch das Fischereiabkommen zwischen der EU und Marokko in soweit für nichtig erklärt, wie sie auf die besetzte Westsahara angewendet wurden.
Der Einspruch Schwedens gegen die Berufung steht im Einklang mit der offiziellen Position des Landes, dass bilaterale Abkommen zwischen der EU und Marokko nicht auf die Westsahara ausgedehnt werden sollten. Schweden war 2018 der einzige EU-Mitgliedstaat, der sich gegen die Praxis aussprach, mit der die EU auf frühere Urteile des Europäischen Gerichtshofs reagierte, die bereits die Anwendung der Abkommen zwischen der EU und Marokko auf die letzte Kolonie in Afrika für ungültig erklärt hatten. Die EU hatte eine Änderung in die angefochtenen Abkommen eingefügt, um die Westsahara ausdrücklich in ihren geografischen Geltungsbereich einzubeziehen, ohne die Zustimmung des Volkes der Westsahara. Schweden hatte seine Weigerung, den Änderungen zuzustimmen, damit begründet, dass "die rechtlichen Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs nicht erfüllt sind", da "wichtige Organisationen, die das Volk der Westsahara vertreten, ihre Zustimmung nicht gegeben haben".
Die schwedische Regierung holte die Meinung des Parlaments zu ihrer Entscheidung ein, gegen eine Berufung zu stimmen und hielt fest, dass das Urteil vom 29. September 2021 "im Einklang mit früheren Urteilen und der Position der [schwedischen] Regierung steht, dass ein Vertrag keine Verpflichtungen oder Rechte für Dritte ohne deren Zustimmung schaffen darf und dass die Abkommen daher nicht ohne die Zustimmung des Volkes der Westsahara geschlossen werden können. Die Regierung beabsichtigt daher, gegen die Anfechtung der Urteile zu stimmen." Keine der Parteien im Parlament brachte Einwände dagegen vor.
Dass das Volk der Westsahara den EU-Abkommen, die ihr Land betreffen, zustimmen muss, war die Schlussfolgerung, die der EU-Gerichtshof in der Berufung des EU-Rates gegen das Urteil von 2015 zur Nichtigerklärung des Agrarabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara gezogen hatte. Es war das erste von nunmehr fünf aufeinanderfolgenden Urteilen des EU-Gerichtshofs, die alle zu demselben Ergebnis kamen: Da Marokko keine Souveränität oder Verwaltungsmandat über die Westsahara hat und im Angesicht des von allen anderen Staaten der Welt „gesonderten und unterschiedlichen“ Status des Territoriums, kann die EU es nicht in ihre Abkommen mit Marokko einbeziehen. Bislang hatte der Rat nur gegen dieses erste Urteil des Gerichts der EU aus dem Jahr 2015 Berufung eingelegt, das damals vom Rat einstimmig unterstützt wurde, da mehrere Mitgliedstaaten Berichten zufolge darauf verwiesen, dass es wichtig sei, das alle rechtlichen Mittel auszuschöpfen, um vollständige Klarheit in dieser Angelegenheit zu erhalten.
WSRW ist nicht bekannt, ob auch andere EU-Mitgliedstaaten möglicherweise abweichende Standpunkte vertreten haben.
Infolge der jetzigen Entscheidung, Berufung einzulegen, werden beide Abkommen, die Gegenstand des Urteils vom September 2021 waren - das Handels- und das Fischereiabkommen - weiterhin auf die Westsahara angewandt, bis sich der EU-Gerichtshof erneut dazu geäußert hat. Dieser Prozess wird voraussichtlich ein weiteres Jahr dauern.
Die Frente Polisario, die von den Vereinten Nationen anerkannte Vertreterin des Volkes der Westsahara und eine weitere Partei in den EU-Gerichtsverfahren, hat die Entscheidung über die Berufung verurteilt. "Sie zeigt die Verschwörung einiger europäischer Parteien mit dem marokkanischen Besatzer, um den Reichtum des sahrauischen Volkes weiterhin zu plündern, und zeugt von dem Versuch, den Entkolonialisierungsprozess zu behindern", heißt es in einem offiziellen Pressetext.
Die Berufung war bereits am 10. November auf Ebene der Botschafter:innen der EU-Mitgliedstaaten (Ausschuss der Ständigen Vertreter der Mitgliedsstaaten, AStV oder COREPER) vorläufig genehmigt worden, bedurfte aber noch der Zustimmung auf Minister:innenebene. Diese wurde am 19. November auf der Tagung der EU-Entwicklungsminister:innen erteilt. Die Genehmigung durch den AStV erfolgte nur wenige Tage, nachdem der marokkanische König der Union eine eindeutige Drohung ausgesprochen hatte. Anlässlich der Feierlichkeiten zur marokkanischen Invasion der Westsahara am 6. November erklärte der König: "Ich möchte denjenigen mit einer zweideutigen oder zwiespältigen Haltung mitteilen, dass Marokko mit ihnen keine wirtschaftlichen oder kommerziellen Geschäfte abschließen wird, in denen die marokkanische Sahara nicht enthalten ist".
Die EU betrachtet Marokko als einen wichtigen Handels- und Investitionspartner. Wie Beamt:innen der EU-Kommission bei Anhörungen im EU-Parlament Ende Oktober betonten, ist Marokko "der erste Handelspartner in der südlichen Nachbarschaft und der 20. insgesamt. Der Handel zwischen der EU und Marokko hat einen Wert von 35 Milliarden Euro: der Wert der ausgetauschten Waren. Das waren die Zahlen im Jahr 2020, es handelt sich also um eine wichtige und bedeutende Beziehung."
Die Entscheidung, Berufung einzulegen, fällt in eine Zeit zunehmender Spannungen zwischen der EU und Marokko in Migrationsfragen. Ende Oktober wurde der Aktionsplan der Kommission zur Migration mit Partnerländern bekannt - eines dieser Partnerländer ist Marokko. In dem Entwurf wird empfohlen, mit Marokko eine "Partnerschaft auf Augenhöhe" aufzubauen, "die auf Dialog, gemeinsamer Verantwortung, gegenseitigem Vertrauen und Respekt beruht". Er beschreibt Marokko als "einen wichtigen Partner in der südlichen Nachbarschaft" und bezeichnet die bilaterale Zusammenarbeit im Bereich Migration als "solide und langjährig". Vor dem Hintergrund zunehmender Migrationsströme aus Marokko und der Westsahara nach Europa wird in dem Dokument die Notwendigkeit eines "verstärkten Engagements Marokkos" betont.
Das Urteil vom 29. September 2021war das Fünfte des Gerichtshofs der Europäischen Union in Folge, das sich mit der Anwendung der Abkommen zwischen der EU und Marokko auf das Gebiet befasst. Darin wiederholte der Gerichtshof die Aussagen der früheren Urteile, dass die Westsahara einen von Marokko „gesonderten und unterschiedlichen“ Status hat und als solche als Drittpartei eines jeden Abkommens zwischen der EU und Marokko betrachtet werden sollte. Die Ausdehnung des territorialen Geltungsbereichs eines solchen Abkommens auf das Gebiet erfordere daher notwendigerweise die Zustimmung des Volkes der Westsahara durch ihre Vertretung. Der Gerichtshof fügte hinzu, dass die von den EU-Institutionen durchgeführten Konsultationen der „lokalen Bevölkerung“ diese Voraussetzung nicht erfüllten, was unter anderem von Western Sahara Resource Watch schon länger kritisiert worden war.
Ein von der EU-Kommission erstellter Bericht gibt Aufschluss über die enorme Summe, die die EU in nur einem Jahr und das allein im Rahmen des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko den Sahrauis vorenthält.
WSRW hat die wichtigsten Ergebnisse des wegweisenden Urteils des EU-Gerichtshofs zur Westsahara vom 4. Oktober 2024 zusammengefasst.
Das Europäische Parlament hat sich dafür ausgesprochen, in drei Parlamentsausschüssen Debatten über den Ausschluss der Westsahara aus den Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko zu führen.
In einem weiteren Urteil vom 4. Oktober 2024 entschied der EU-Gerichtshof, dass Produkte aus der Westsahara auf dem EU-Markt nicht als "aus Marokko" gekennzeichnet werden dürfen.