Die Universitäten Kiel und Hamburg haben sich an der Kartierung des Meeresbodens vor der Küste der besetzten Westsahara beteiligt, anscheinend ohne zu wissen, wo sie diese Operation durchgeführt haben.
"Nach einem kurzen Transit von nur 8 Stunden [auf den Kanarischen Inseln] erreichten wir die marokkanische AWZ und damit unser Hauptarbeitsgebiet", schreibt ein deutsches Wissenschaftsteam in einem am 19. Dezember 2022 veröffentlichten Bericht.
Der Standort der umstrittenen deutschen Forschungsexpedition lag jedoch keineswegs in marokkanischen Gewässern bzw. in der Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ) Marokkos. Das Gebiet, in dem das Team in den Tagen vor Weihnachten 2022 gearbeitet hat, steht unter völkerrechtswidriger und brutaler Besatzung durch Marokko.
Vom 11. bis 24. Dezember beobachtete Western Sahara Resource Watch (WSRW) das Forschungsschiff Maria S. Merian (IMO 9274197), das in den Gewässern vor Boujdour in der besetzten Westsahara kreuzte. In keinem der von den Universitäten Hamburg und Kiel [Download hier] veröffentlichten Berichte über die Expedition wurde der tatsächliche Ort der Untersuchung angegeben. Alle Berichte suggerierten, dass sie in der "marokkanischen AWZ" oder vor der Küste "Marokkos" stattfand.
Nachdem WSRW alle relevanten deutschen Institutionen in dieser Angelegenheit kontaktiert hatte, wurde bisher nur einer der fehlerhaften Online-Berichte korrigiert. In einem Website-Artikel der Universität Kiel wird das Forschungsgebiet nun als "vor der nordwestafrikanischen Küste" bezeichnet (statt wie vor kurzem "vor der marokkanischen Küste" - siehe Original-Website vom 29. Dezember 2022 hier).
Alle deutschen öffentlichen Einrichtungen, die auf die Schreiben von WSRW geantwortet haben, verweisen in Bezug auf ihr Vorgehen auf das deutsche Außenministerium.
Marokko hält seit 1975 den größten Teil des Territoriums der Westsahara völkerrechtswidrig besetzt. Die UNO, der Internationale Gerichtshof, der Europäische Gerichtshof und der Afrikanische Gerichtshof für Menschenrechte und Rechte der Völker betrachten die Westsahara als ein von Marokko getrenntes Gebiet, auf das Marokko keinen Rechtsanspruch hat.
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) trägt 70 % der Betriebskosten des Schiffes, das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) steuert die restlichen 30 % bei.
Zum Schiff selbst stellt die DFG folgendes klar: "Die Investitionskosten teilten sich das BMBF sowie die Küstenbundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Schleswig-Holstein, Bremen und Hamburg. Seinen Heimathafen hat das Forschungsschiff MARIA S. MERIAN am Institut für Ostseeforschung in Rostock-Warnemünde (IOW), Eigentümer ist das Land Mecklenburg-Vorpommern. Das von BMBF und DFG eingesetzte Begutachtungspanel Forschungsschiffe (GPF) entscheidet nach wissenschaftlichen Kriterien, welche Fahrtvorschläge in die Fahrtplanung aufgenommen werden. Die Leitung des Schiffsbetriebs obliegt der Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe an der Universität Hamburg." Die Leitstelle ist laut Angaben auf seiner Website "für die wissenschaftlich-technische, logistische und finanzielle Vorbereitung, Abwicklung und Betreuung des Schiffsbetriebes verantwortlich".
Das Expeditionsteam bestand aus 13 Wissenschaftler:innen der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, drei des GEOMAR Helmholtz-Zentrums für Ozeanforschung Kiel, zwei Wissenschaftler:innen des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde und einem Wissenschaftlerin der University of Durham, Großbritannien.
Nach Angaben der Universität Kiel wurde die Expedition von Sebastian Krastel geleitet, einem Geophysiker, der als Professor am Institut für Geowissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel arbeitet.
Kurze Beschreibungen (Ausgabe 1, 2, 3, 4, 5) und ein kurzer Fahrtbericht wurden auf die Website der Universität Hamburg veröffentlicht, um die Arbeiten an Bord zu dokumentieren. Keiner der Berichte verortet die Erkundung an der richtigen Stelle.
Auch laut des von der Universität Hamburg veröffentlichten Fahrplans sollte das Schiff im Rahmen der "MSM113" genannten Mission ab dem 11. Dezember seismische Untersuchungen in "Marokko" durchführen.
Nach Abschluss der Arbeiten vor der Küste von Boujdour am 25. Dezember fuhr das Schiff nach Norden in marokkanische Gewässer und später zu den Kanarischen Inseln, wobei der 12. Januar 2023 der letzte Tag der spanisch-marokkanisch-sahrauischen Erkundung war.
Nach Angaben der Universität Kiel war das Ziel der Expedition, Sedimentwellen auf dem Meeresboden zu erforschen, "eine der häufigsten Bodenformen auf dem Meeresboden unseres Planeten, in ihrer Entstehung aber noch weitgehend unerforscht."
Untersuchungen des Meeresbodens erfüllen in der Regel auch Zwecke, die über rein akademische Interessen hinausgeht. Im Jahr 2019 wurde eine Untersuchung des Meeresbodens als Vorbereitung für die Verlegung eines Telekommunikationskabels seitens Marokko im Jahr 2021 durch die Gewässer der besetzten Stadt Dakhla durchgeführt. In einem Artikel auf der Website des Leibniz-Instituts, das auch an der Mission 2022 beteiligt ist, heißt es, dass "Sedimentwellen eine wichtige Rolle für die Stabilität von Kontinentalhängen und Tiefwassser-Kohlenwasserstoffsysteme" spielen.
Für WSRW ist unklar, was nun mit den Forschungsdaten geschehen wird. Wenn sie veröffentlicht werden, kann das vorhandene Wissen möglicherweise von Marokko für seine Bemühungen genutzt werden, die Ressourcen des Gebiets illegal zu auszubeuten bzw. weitere Infrastruktur im Rahmen seiner Siedlungspolitik aufzubauen. Wie es der Zufall will, überschneidet sich der Standort der Studie genau mit der nordöstlichen Ecke des Offshore-Gebiets, für das das israelische Unternehmen NewMed Energy am 6. Dezember 2022 eine Ölexplorationslizenz mit der marokkanischen Regierung unterzeichnet hat.
Zwischen dem 10. und 12. Januar 2023 kontaktierte die WSRW alle an der Studie beteiligten deutschen Institutionen und wies auf den möglichen Missbrauch der Daten der Mission durch die Besatzungsmacht Marokko sowie auf die ernsthaften Gefahren für die Einhaltung des Völkerrechts hin, die eine Expedition in die Gewässer eines besetzten Gebiets mit einer von der Besatzungsmacht ausgestellten Genehmigung mit sich bringt. WSRW forderte, alle Erwähnungen Marokkos in Bezug auf das Forschungsgebiet in der Westsahara zu beseitigen und die Ergebnisse der Mission erst dann zu veröffentlichen, wenn der Konflikt in einem von der UNO koordinierten Rahmen gelöst ist. Die Briefe finden Sie am Ende dieses Artikels.
Für diese Art von Operationen sind offizielle Genehmigungen für die ausschließlichen Wirtschaftszonen (AWZ) der beteiligten Länder erforderlich. WSRW liegen keine Hinweise darauf vor, dass die von den Vereinten Nationen als rechtmäßige Vertretung des sahrauischen Volkes anerkannte Frente Polisario dem Projekt die Genehmigung erteilt hat, in den Gewässern des Gebiets zu operieren. Laut EU-Gerichtshof ist Marokko nicht in der Rechtsposition, internationale Abkommen für das Gebiet bzw. seine AWZ abzuschließen; dies kann nur die Polisario.
Laut Website der Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe der Universität Hamburg [Download hier] muss ein diplomatisches Antragsformular vom Fahrtleitenden der Mission in Übereinstimmung mit dem Internationalen Seerechtsübereinkommen ausgefüllt werden. Es wird dann " beim Auswärtigen Amt in Berlin zur diplomatischen Weiterleitung und Begleitung bei den betroffenen Küstenstaaten eingereicht".
Die Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe (LdF), die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Universität Kiel erklärten in ihren Antworten an WSRW, dass sie sich nur an die Richtlinien des Auswärtigen Amtes halten.
Das Ministerium selbst hat auf das Schreiben von WSRW vom 12. Januar 2023 geantwortet, dass es keine Probleme mit der Forschungsmission sehe.
"In einer Zeit, in der das Völkerrecht unter Druck steht, ist es absurd zu beobachten, was gerade passiert ist. Die Universität Kiel weiß anscheinend nicht, in welchem Land sie tätig war. Was wäre das nächste? Wird es eine öffentliche finanzierte deutsche Expedition in die Gewässer vor der Krim geben und die zuständige Universität bezeichnet die Gewässer als Teil der russischen ausschließlichen Wirtschaftszone?", erklärt Tim Sauer von WSRW Germany.
"Wir erwarten, dass keine der wissenschaftlichen Daten, die in besetzten Gewässern gewonnen wurden, veröffentlicht werden - und auch nicht mit der marokkanischen Regierung geteilt werden - bis eine Lösung des Konflikts gefunden ist. Die Daten könnten von der marokkanischen Regierung für ihre Pläne in dem Gebiet missbraucht werden. Außerdem müssen alle Informationen auf der Website unverzüglich korrigiert werden, um sie an die UN-Terminologie anzupassen", erklärte Sauer.
Das deutsche Bundesministerium für Bildung und Forschung, das teilweise hinter der Entscheidung steht, das Schiff in das Gebiet zu schicken, hat letztes Jahr seine Zusammenarbeit mit Russland wegen des Einmarsches in der Ukraine eingestellt.
Die DFG wiederum behauptet in ihrer Antwort an WSRW, dass die Finanzierung einer solchen Mission "keine Position der DFG in Bezug auf widersprüchliche oder ungelöste Ansprüche" darstelle. Dem steht die Position der Bundesregierung gegenüber, "keine wirtschaftlichen Aktivitäten deutscher Unternehmen in der Westsahara zu unterstützen und keine Geschäfte durch Exportkredit- und Investitionsgarantien abzusichern", wie der Staatssekretär im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie 2017 erklärte.
In der Antwort führt die DFG weiter aus, dass das vom BMBF und ihr selbst eingesetzte Begutachtungspanel "die vorgeschlagenen Projekte ausschließlich aus wissenschaftlicher Sicht prüft". " (…) die Sicherstellung der Einhaltung aller gesetzlichen Vorschriften (…) obliegt dagegen der jeweiligen Fahrtleitung in Zusammenarbeit mit (…) der Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe". Diese verweist ihrerseits wie erwähnt auf das Auswärtige Amt.
Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages hat 2020 eine ausführliche Analyse der rechtlichen Aspekte des Westsahara-Konflikts veröffentlicht, die zu dem Schluss kommt, dass Marokko als Besatzungsmacht anzusehen ist und seine Siedlungspolitik Kriegsverbrechen begründet.
Von den anderen beteiligten Institutionen, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel, Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde und dem Ministerium für Wissenschaft, Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten Mecklenburg-Vorpommern, hat WSRW keine Antwort erhalten.
Von WSRW versandte Briefe:
WSRW an Geomar, 10.01.2023
WSRW an den Direktor des IOW, 10.01.2023
WSRW an Dr. Feldens vom IOW, 10.01.2023
WSRW an Prof. Dr. Krastel, Universität Kiel, 10.01.2023
WSRW an zuständiges Ministerium Land Mecklenburg-Vorpommern, 10.01.2023
WSRW an Leitstelle Deutsche Forschungsschiffe, 10.01.2023
WSRW an Leitung des Referats 724, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 10.01.2023
WSRW an Bundesministerin, Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), 10.01.2023
WSRW an Präsidentin der Universität Kiel, 10.01.2023
WSRW an Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, 10.01.2023
WSRW an Präsident der Universität Hamburg, 10.01.2023
WSRW an Programmdirektor Geschäftsstelle/Begutachtungspanel Forschungsschiffe, Deutsche Forschungsgemeinschaft e.V., 10.01.2023
WSRW an Leitung des Referats 312, Auswärtiges Amt, 12.01.2023
WSRW an Leitung des Referats 604, Auswärtiges Amt, 12.01.2023
Antworten erhalten:
Universität Kiel an WSRW, 31.01.2023
DFG an WSRW, 23.01.2023
LdF an WSRW, 23.01.2023
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Siemens Energy ist unter den multinationalen Konzernen, die Berichten zufolge Interesse bekundet haben, Marokko beim Transport von in der besetzten Westsahara erzeugtem Strom in sein Staatsgebiet zu unterstützen.
Die deutsche Regierung hat klargestellt, dass ihre finanzielle Unterstützung für Siemens Energy eine Bestimmung enthält, die Projekte des Unternehmens „in der von Marokko besetzten Westsahara" ausschließt.
Die deutsche Versicherungsgesellschaft Allianz geht aufs Ganze, wenn sie die brutale marokkanische Besatzung der Westsahara politisch verteidigt.
Das schwedische Lkw-Unternehmen Scania, das zur Volkswagen-Gruppe gehört, bietet Dienstleistungen in der besetzten Westsahara an.