Die EU-Kommission hat einen neuen Bericht verfasst, in dem sie darlegt, wie marokkanische Siedler:innen von dem EU-Marokko Handelsabkommen profitieren, das vom EU-Gerichtshof mehrfach für illegal erklärt wurde.
Western Sahara Resource Watch (WSRW) hat Zugang zu einem höchst umstrittenen Dokument der Europäischen Kommission vom 13. Januar 2023 erhalten. Bei dem Dokument handelt es sich um ein sogenanntes Staff Working Document (SWD), dessen Inhalt sich mit den Vorteilen für die Bevölkerung der Westsahara" befasst, die sich aus der Umsetzung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko in Afrikas letzter Kolonie ergeben.
Der EU-Gerichtshof hat bis heute in sechs aufeinanderfolgenden Urteilen die Anwendung bilateraler Abkommen zwischen der EU und Marokko - einschließlich des Handelsabkommens, das Gegenstand des SWD ist - für rechtswidrig erklärt. Die EU-Kommission hat sich offenbar nicht die Mühe gemacht, die Entwicklung der Rechtssprechung aus den letzten zehn Jahren in irgendeiner Form zu berücksichtigen.
Der Bericht wurde noch nicht auf den Webseiten der EU veröffentlicht. Das Dokument kann jedoioch hier heruntergeladen werden.
In der Einleitung des Berichts wird erklärt, dass das Dokument eine Antwort auf eine Anfrage des Europäischen Parlaments ist, "das regelmäßig über die Auswirkungen der Anwendung von Zollpräferenzen auf Waren aus der Westsahara und die potenziellen Vorteile für die betroffenen Bevölkerungsgruppen informiert werden möchte".
Was der Bericht verschweigt, ist, dass diese Forderung des Parlaments auf einem anderen Staff working document aus dem Jahr 2018 beruht, das in vielerlei Hinsicht fehlerhaft war. Einer dieser Fehler war das Argument der EU-Kommission, dass das Urteil des EU-Gerichtshofs vom Dezember 2016 - das die Anwendung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko in der Westsahara untersagte, weil das Volk der Westsahara dem nicht zugestimmt hatte - die Fortsetzung des Abkommens erlaube, wenn es für die dort lebende Bevölkerung von Vorteil sei.
Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Ansatz bereits im Dezember 2016 vom Gerichtshof der Europäischen Union und erneut im jüngsten Urteil des Gerichts von 2021 für rechtswidrig befunden worden ist.
Das neue SWD vom 13. Januar 2023 nimmt keinen Bezug auf die mittlerweile sechs aufeinanderfolgenden Urteile des EU-Gerichtshofs, die alle die Anwendung der bilateralen Abkommen zwischen der EU und Marokko auf die Westsahara untersagen. Stattdessen heißt es in einem einzigen Satz des 28-seitigen Dokuments, dass es "weiterhin relevant und gültig ist, diesen regelmäßigen Bericht über die Auswirkungen des Abkommens vorzulegen", während das Abkommen, das "durch das Urteil des Gerichts für nichtig erklärt wurde", in Berufung ist. Die Kommission bietet keine Erklärungen zu den Argumenten, die der EU-Gerichtshof immer wieder vorgebracht hat: Da die Westsahara ein von Marokko "gesondertes und unterschiedliches" Gebiet ist und Marokko keine Souveränität oder Verwaltungsmandat über das Gebiet hat, können die bilateralen Abkommen zwischen der EU und Marokko die Westsahara nicht rechtmäßig berühren, es sei denn, das Volk des Gebiets hat zugestimmt - ausgedrückt durch die von den Vereinten Nationen anerkannten Vertretung des Volkes, die Frente Polisario. Da diese Zustimmung nie erteilt wurde, können die Abkommen nicht auf die Westsahara angewendet werden.
Tatsächlich wird das Wort "Zustimmung" in dem gesamten Bericht nicht ein einziges Mal erwähnt.
Das neue Staff working document - "2022 Report on the effect and benefits for the people of Western Sahara in relation to extending tariff preferences to products originating in Western Sahara" - scheint die Urteile und Argumente des höchsten EU-Gerichts systematisch zu ignorieren. Stattdessen konzentriert sich der Bericht auf einen Ansatz, der vom Gerichtshof bereits zweimal abgelehnt wurde, nämlich der Fokus auf die Vorteile eines Abkommen, das an sich in der Westsahara als rechtswidrig eingestuft wird.
Auf dem Titelblatt des Berichts ist zwar der Begriff "Volk" zu lesen, doch findet sich dieser Begriff im gesamten Bericht nicht wieder.
Die Kommission verwendet durchgängig den Begriff "Bevölkerung", der ein völlig anderes Rechtskonzept darstellt: Die derzeitige Bevölkerung der Westsahara besteht hauptsächlich aus marokkanischen Siedler:innen, während die Menschen in der Westsahara eine Minderheit in ihrem Heimatland sind, da viele Sahrauis in Flüchtlingslagern in Algerien oder in der weiteren Diaspora leben. Die Sahrauis, die nach der marokkanischen Invasion und Annexion aus der Westsahara geflohen sind, werden daher in diesem Bericht überhaupt nicht berücksichtigt.
Das Dokument enthält Daten über die Produktion in der Westsahara und die Ausfuhren aus der Westsahara für das Jahr 2021 (gelegentlich auch für einen Teil des Jahres 2022) und enthält ein Kapitel über "Grundrechte". In dem Dokument wird erklärt, dass die Informationen in dem Bericht hauptsächlich durch den Austausch mit der Regierung des Nachbarlandes der Westsahara, Marokko, gewonnen wurden.
"Im aktuellen Kontext, in dem Marokkos fehlender Rechtsstatus über die Westsahara immer wieder vom EU-Gerichtshof bestätigt wurde, in dem Marokko sich weigert, mit der EU in Fragen wie Migration oder Terrorismusbekämpfung zusammenzuarbeiten, wenn es Kritik an seiner Präsenz in der Westsahara wahrnimmt, wo eine polizeiliche Untersuchung aufdeckt, dass Marokko Bestechungsgelder verwendet hat, um die Entscheidungsfindung der EU zugunsten seiner unhaltbaren Besetzung der Westsahara zu beeinflussen - ist es sehr schwer zu verstehen, warum die EU-Kommission Marokko als Quelle für alles, was mit der Westsahara zu tun hat, akzeptiert", sagt Sara Eyckmans von WSRW.
Im SWD heißt es jedoch, dass die EU-Kommission und der Auswärtige Dienst der EU "ein breites Spektrum von Einrichtungen mit unterschiedlichem Interesse und Repräsentativität in dem Gebiet" kontaktiert und sie aufgefordert haben, "relevante Informationen über die Auswirkungen des Abkommens auf die Bevölkerung und die Nutzung der natürlichen Ressourcen zu liefern".
Der EU-Gerichtshof lehnte in seinem Urteil von 2021 den Ansatz der Konsultation von Interessengruppen ab. Stattdessen, so der Gerichtshof, müsse die Zustimmung der Vertretung des Volkes der Westsahara eingeholt werden, um das Handelsabkommen auf das Gebiet anzuwenden. Diese Vertretung ist nach Ansicht des Gerichtshofs die auch von den Vereinten Nationen als dieses anerkannte Frente Polisario. Abgesehen von der Frente Polisario, die es ablehnte, an der Konsultation teilzunehmen, vertritt keine der im SWD aufgeführten Gruppen das Volk der Westsahara - auch nicht WSRW.
Die Gründe von WSRW, nicht an der Konsultation teilzunehmen, finden Sie hier.
Die wichtigste Schlussfolgerung des Berichts lautet, dass die Anwendung des Handelsabkommens zwischen der EU und Marokko auf die Westsahara positive Auswirkungen "auf die Produktion und den Export hat und Arbeitsplätze und Investitionen schafft". Die Exporte in die EU zeigen weiterhin einen Aufwärtstrend, heißt es in dem Dokument, und so macht das Abkommen die Produktion in der Westsahara wettbewerbsfähig und ermöglicht die Entwicklung der beiden Sektoren, die davon am meisten betroffen sind: Landwirtschaft und Fischerei.
Der Bericht befasst sich in erster Linie mit der Landwirtschaft und dem Fischereisektor in der Westsahara. Es sei daran erinnert, dass das Handelsabkommen zwischen der EU und Marokko sowohl landwirtschaftliche Erzeugnisse als auch Fischereierzeugnisse wie Tiefkühlfisch, Fischkonserven, Fischöl und -mehl usw. umfasst. Es regelt nicht die Fischereitätigkeiten der EU in Marokko, die Gegenstand des Fischereiabkommens zwischen der EU und Marokko sind.
Einige der wichtigsten Elemente des Staff working documents sind im Folgenden zusammengefasst.
Im Bezug auf Landwirtschaftserzeugnisse:
In Bezug auf Fischereierzeugnisse:
Darüber hinaus enthält der Bericht eine kurze Beschreibung anderer Wirtschaftssektoren in der Westsahara. Die marokkanischen Projekte im Bereich erneuerbare Energien in dem Gebiet werden in einem Kasten mit dem Titel "Western Sahara's renewable mini-grid" hervorgehoben. Diese Infrastrukturprojekte auf besetztem Land werden als Wettbewerbsvorteil für die Industrie der Westsahara gepriesen. Es ist erwähnenswert, dass alle derzeit in Betrieb befindlichen Windparks in der besetzten Westsahara zum Portfolio von Nareva gehören, dem Energieunternehmen im Besitz des marokkanischen Königs. Besondere Aufmerksamkeit wird in dem Bericht dem geplanten Windparkprojekt in Dakhla gewidmet, ohne zu erwähnen, dass dieser Windpark im Miteigentum des marokkanischen Premierministers Aziz Akhannouch steht.
Der Phosphatsektor wird kurz gestreift, wobei festgestellt wird, dass es keine Phosphatexporte aus der Westsahara in die EU gibt, da in dem Gebiet noch keine verarbeiteten Phosphatprodukte hergestellt werden und die EU kein Interesse an Rohphosphat hat.
Im Dokument heißt es weiter, dass Rohphosphat aus der Westsahara wahrscheinlich in Marokko zur Herstellung von Phosphatderivaten verwendet wird, die dann im Rahmen der Präferenzen in die EU ausgeführt werden. Dies ist nicht korrekt. Es gibt keine Transporte von Phosphat aus der Westsahara nach Marokko, weder per Schiff noch auf dem Landweg. Das hat es nie gegeben. Die illegalen Phosphatexporte aus dem Gebiet werden in den WSRW-Jahresberichten P for Plunder behandelt. In dieser Berichtsserie hat WSRW höchstwahrscheinlich jedes Schiff dokumentiert, das in den letzten 12 Jahren Gestein aus dem Gebiet exportiert hat.
Dass die marokkanische Regierung keine rechtliche Grundlage für wirtschaftliche Aktivitäten in der Westsahara hat, wird in dem Bericht nirgends erwähnt, stattdessen werden diese umstrittenen Investitionen normalisiert.
Der Bericht enthält ein Kapitel mit dem Titel "Grundrechte", in dem angeblich kurz auf die aktuelle Menschenrechtslage in Marokko und der Westsahara sowie auf den UN-Friedensprozess eingegangen werden soll. Die Kommission räumt zwar ein, dass "objektive internationale Quellen zur Menschenrechtslage nach wie vor rar sind", führt aber weiter aus, dass Marokko die Westsahara als integralen Bestandteil seines Hoheitsgebiets betrachtet und "die EU daher - unbeschadet des Standpunkts der EU zur Westsahara - die Menschenrechtslage in der Westsahara in der Regel im Einklang mit dem institutionellen Rahmen, der die bilateralen Beziehungen zwischen der EU und Marokko regelt, verfolgt hat. Informationen wurden insbesondere durch einen Unterausschuss für "Menschenrechte, Demokratisierung und Regierungsführung" eingeholt, der im Rahmen des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Marokko eingerichtet wurde. Die Kommission schreibt, dass die Anwendung des Handelsabkommens auf die Westsahara "zur Normalisierung und Wiederbelebung der Beziehungen zwischen den beiden Partnern und damit zur Aufrechterhaltung ihres Dialogs und ihrer konstruktiven Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte beigetragen hat, die ohne dieses Abkommen beeinträchtigt oder gefährdet worden wären".
Der Bericht erwähnt zwar beiläufig, dass Marokko bei Rechten wie Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit noch einen weiten Weg vor sich hat, versäumt er aber zu erklären, dass die Westsahara an sich "ein Tabuthema ist, mit drakonischen Gesetzen, die von Staatsanwälten angewandt werden, um selbst friedliches Eintreten für die Selbstbestimmung zu bestrafen", wie der jüngste Jahresbericht von Human Rights Watch hervorhebt. Jahr für Jahr wird die Westsahara in Bezug auf die politischen und bürgerlichen Freiheiten als eines der schlimmsten unter schlimmsten Ländern/Territorien der Welt eingestuft, was sich jedoch in diesem Bericht nicht widerspiegelt.
In dem Abschnitt über die Grundrechte wird auch die besorgniserregende humanitäre Lage in den sahrauischen Geflüchtetencamps angesprochen und erklärt, dass die EU sich verpflichtet hat, "humanitäre Hilfe zu leisten".
"Dies ist praktisch eine Beleidigung", kommentiert Eyckmans von WSRW. "Die UNO berichtet, dass die geflüchteten Sahraui wegen Unterfinanzierung weniger als die Hälfte der erforderlichen täglichen Kalorienzufuhr erhalten. Es ist lobenswert, dass die EU den Geflüchteten 2022 humanitäre Hilfe in Höhe von 11 Millionen Euro gewährt, aber das sind Peanuts im Vergleich zu dem, was sie Marokko für Importe aus ihrem besetzten Heimatland oder für Fischlizenzen dort zahlt. Wenn die EU den Sahrauis wirklich helfen wollte, würde sie die direkte Finanzierung der marokkanischen Präsenz in der besetzten Westsahara einstellen."
Schließlich werden in dem Bericht die Bemühungen des 2021 ernannten persönlichen UN-Gesandten des UN-Generalsekretärs beschrieben, einschließlich seiner Besuche in Marokko, Mauretanien und Algerien - wobei ausgelassen wird, dass ein Besuch in der Westsahara weiterhin von Marokko blockiert wird.
"Die Kommissionsdienststellen und der EAD sind der Ansicht, dass der pragmatische Ansatz der EU, auch in Bezug auf Handelsabkommen für Produkte aus der Westsahara, zu einem besseren sozioökonomischen Umfeld beiträgt und Teil unserer Verpflichtung ist, die Bemühungen der Vereinten Nationen weiterhin zu unterstützen."
"In einer Zeit, in der das Völkerrecht unter Druck steht, handelt die Kommission zutiefst heuchlerisch und zynisch und ignoriert die grundlegendsten Prinzipien, die sie andernorts zu verteidigen vorgibt. Es ist auffallend, wie unterschiedliche Maßstäbe an dieselben Verstöße gegen das Völkerrecht angelegt werden", so Eyckmans abschließend.
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